Lied-Empfehlung Juni: „Bürgerlied“ mit Text von 2020

Das Lied aus der Zeit der Revolution von 1848 wurde in den 1970ern durch das Deutschfolk-Revival wieder bekannt. 1962 hatte es in Ostberlin Wolfgang Steinitz in seine Sammlung „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“, aufgenommen. 1965 sang es Peter Rohland beim Festival „Chanson Folklore International“ auf Burg Waldeck. Später hatten es so ziemlich alle namhaften Interpreten der Folkszene in West und Ost im Repertoire. Hier ist das Lied von 1845 mit Florian Kirners Text von 2020, mit Noten, Text, Hörbeispielen und einer kurzen Liedgeschichte.

„Ob wir rote, gelbe Kragen, Helme oder Hüte tragen, Stiefel tragen oder Schuh, das tut nichts dazu. ... Aber ob wir in der Welt was schaffen oder nur die Welt begaffen, das tut was dazu!“. Immer mal wieder wurde der Text des „Bürgerliedes“ aktuell abgewandelt, in der Bundesrepublik u. a. 1977 von Walter Moßmann für die Protestbewegung gegen Atomkraftwerke und die Berufsverbote im öffentlichen Dienst und 1981 von Manfred Jaspers für die Friedensbewegung. In der DDR sang der Oktoberklub 1978 das Lied mit einer Textfassung, die aber von der Folkszene nicht aufgegriffen wurde. Eigene Versionen schufen 2010 auch Joana und 2016 Schnappsack.

"Nur zusammen wird es geh'n."
Florian Kirner, alias Prinz Chaos II., ist Liedermacher, Kabarettist und seit 2011 Veranstalter des „Paradiesvogelfestes“ im südthüringischen Weitersroda. Geboren wurde er 1975 in München. Zu seinen Vorbildern zählt er Franz Josef Degenhardt, zu seinen Freunden Konstantin Wecker. Er kennt das "Bürgerlied" von seinen friedensbewegten Eltern. 2020 schrieb er für "Prinzessin und Rebell", sein Duo mit Anna Katharina Kränzlein, einen neuen Text dazu: „Zusammen“.

Anna Katharina Kränzlein und Florian Kirner ("Prinzessin und Rebell"), Foto: Uli Hilbel

„Mir ist aufgefallen, dass es immer mehr Spaltungstendenzen unter Leuten gibt, die eigentlich sehr viel gemeinsam haben. Man erlebt das jetzt rund um diese digitalen Debatten: Leute bekriegen sich, entfreunden sich, gehen aufeinander los. Und das ‚Bürgerlied‘ besingt ja die Vereinigung von Leuten, die die gleichen Interessen haben. Das war ein Impuls, den ich für unsere Zeit als sehr notwendig empfinde, aber ich wollte dieses Zeitkolorit der 1848er in die Gegenwart holen.“

NOTEN

TEXT

Ob mit roten, gelben Westen,
es geht doch am allerbesten,
wenn wir beieinander steh'n.
ǁ: Wir sind viele, sind Millionen,
drum wird unser Kampf sich lohnen.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Ob wir kranke Menschen pflegen,
oder Laub von Straßen fegen,
fremde Haare machen schön.
ǁ: Ob wir zweifeln oder glauben,
Rechner hacken, Autos schrauben.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Ob wir um die Rente bangen,
Flaschen sammeln und in langen
Nächten keine Zukunft für uns sehn.
ǁ: Ob dich Finanzierungslücken
oder Abschiedsängste drücken.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Flohst vor Folter du und Messern,
kamst du, um dein Los zu bessern,
um den Lohn dir zu erhöh'n,
ǁ: musstest du vor den Kriegen flüchten,
die die Herrn des Geldes züchten.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Lieber festgenommen werden,
als dem großen Artensterben
ohne Taten zuzuseh'n.
ǁ: Lass die Rebellion beginnen,
friedlich das System bezwingen.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Brecht die Macht der Monopole,
dass das Pack der Teufel hole
und sein stinkendes System,
ǁ: die, die unsere Welt versauen,
wollen wir vom Sockel hauen.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Ob mit roten, gelben Westen,
es geht doch am allerbesten,
wenn wir beieinander steh'n.
ǁ: Wir sind viele, sind Millionen,
drum wird unser Kampf sich lohnen.
Nur zusammen wird es geh'n. :ǁ

Worte: Florian Kirner, frei nach „Ob wir rote, gelbe Kragen“ (Adalbert Hanisch, 1845)
Melodie: Prinz Eugen, der edle Ritter (Volkslied, 18. Jahrhundert)

KLANGBEISPIEL

"Zusammen" mit Prinzessin & Rebell: Anna Katharina Kränzlein und Florian Kirner

GESCHICHTE

1845 dichtete der Postsekretär Adalbert Harnisch in der ostpreußischen Stadt Elbing den Text des „Bürgerliedes“ auf die Melodie des Volksliedes „Prinz Eugen, der edle Ritter“ für den dortigen Bürgerverein. Veröffentlich wurde es zunächst unter Pseudonym. Rasch verbreitete es sich in Preußen und bald auch in anderen Teilen des Reichs. Während der Märzrevolution 1848/49 wurden Flugblätter mit dem Liedtext verteilt. Schon 1847 war es im Mannheimer „Deutschen Volksliederbuch“ abgedruckt worden, 1848 im einflussreichen „Republikanischen Liederbuch“, dort wie auch 1862 im Liederbuch für deutsche Turner und 1897 in Max Kegels „Sozialdemokratischen Liederbuch“ allerdings mit falschem Verfassernamen. Nach der Novemberrevolution 1918 wurde es dann still um das Lied.

Wiederentdeckt und bis heute gern gesungen
Wiederentdeckt für die Singpraxis wurde das „Bürgerlied“ mehr als 40 Jahre später durch die Folkszene in der Liedersammlung von Wolfgang Steinitz. Nach Peter Rohland sangen es im Westen u. a. Dieter Süverkrüp, Hein & Oss Kröher, Zupfgeigenhansel, Hannes Wader oder Liederjan. Im Osten wären etwa Folkländer, Liedehrlich, Wacholder oder die Leipziger Folksession Band zu nennen. Es entstanden mehrere Dialektfassungen: Die Höhner (Kölsch), Udo Schroll (Aachener Platt), Aernschd Born (Schweizerdeutsch).

Auch musikalisch gibt es sehr unterschiedliche Versionen – als Chorlied mit dem Liederkranz Wernau (Baden-Württemberg), zur Harfe mit der Koblenzer Neofolk-Formation Hekate oder als Crossover mit dem Magdeburger Indie-Projekt Egolog.

Weshalb wird das „Bürgerlied“, mit dem ursprünglichen oder einem neuen Text, bis heute so gern auf Umwelt- und Friedens-Demos oder Gewerkschafts-Kundgebungen gesungen? Florian Kirner erklärt:

„Weil es ja eine Hauptspaltungslinie deutlich macht: die da oben und wir da unten. Das ist etwas, was wir wieder ins Zentrum rücken sollten, dass es eben doch eine Monopolstruktur gibt, wo manche Leute eine unglaubliche Macht angesammelt haben. Und alles, was da an Spaltungslinien kultiviert wird, ist eigentlich nur eine Ablenkung von diesem großen Machtgefälle“.

Frühere Lied-Empfehlung:

Mai 2021: "Wie schön blüht uns der Maien", empfohlen von Matthias "Kies" Kießling (Ex-Wacholder)