Polka und An Dro – der Osten tanzt! | 29.04.24

Seit 1982 wird am 29. April der Welttanztag begangen. Es ist der Geburtstag des französischen Tänzers und Choreografen Jean-Georges Noverre (1727–1810). Er begründete das moderne Ballett. Das Anliegen des vom Internationalen Theaterinstitut angeregten Tages geht weit darüber hinaus: „Förderung des Tanzes in all seinen Formen auf der ganzen Welt“. Das Datum ist Anlass für mich, einen Blick auf die Folktanzszene zwischen Ostsee und Erzgebirge zu werfen, mit ein wenig Geschichte, dem Versuch eines Überblicks und einer Mini-Umfrage unter (folktanzaffinen) Freunden und Bekannten.

VON WOLFGANG LEYN

Folktanz mit Serbska Reja 2023 im Alten Kranwerk Naunhof (Foto: Wolfgang Leyn)

Los ging's mit Polka-Hacke-Spitze

Die Geschichte des Folktanzes in Ostdeutschland begann vor ziemlich genau 45 Jahren. Zu Pfingsten 1979 veranstalteten am Rande eines Jugendfestivals in Berlin drei Folkbands – Folkländer aus Leipzig, JAMS aus Berlin und Brummtopf aus Erfurt – den allersten Mitmach-Volkstanzabend. Zum Vorbild nahmen sie sich die ungarische Tánzház-(Tanzhaus)-Bewegung. Das Repertoire beschränkte sich auf zwei Tänze: Polka-Hacke-Spitze und Longway, der Tanzbegeisterung tat das keinen Abbruch.

Folktanz-Premiere beim Nationalen Jugendfestival zu Pfingsten 1979 in der Parkaue Berlin-Lichtenberg, hier mit Brummtopf aus Erfurt (Foto Thomas Neumann/neumgraf.de)

Im Januar 1980 zur zentralen DDR-Folkwerkstatt in Leipzig mit 15 Bands aus der ganzen Republik hatte Folkländers (Vor-)Tanzgruppe Kreuz & Square Premiere. Beim größten DDR-Folkfestival im Juni 1980 in Berlin musste Tanzmeisterin Sigrid Lembke (heute Römer) die Besucher nicht zum Mitmachen aktivieren, sondern eher ordnend ins muntere Treiben auf dem Tanzparkett eingreifen. Im Sommer 1980 hatten die Leipziger auch außerhalb der Szene Erfolg mit ihrem Folktanz-Konzept. In Grimmen, Bezirk Rostock, traten sie damit bei den Arbeiterfestspielen auf, dem DDR-weiten Kulturfest mit Amateur- und Berufskünstlern, organisiert von Kulturministerium und Gewerkschaftsbund. Sie wurden dafür sogar mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.

Folkländer mit Kreuz & Square 1980 in Grimmen, ganz links mit Mikrofon Tanzmeisterin Sigrid Lembke (Foto: Stefan Gööck)

Ab 1981 fanden in Leipzig regelmäßig Folktanzabende statt, bald auch in Berlin und Erfurt. Bald entstanden in Leipzig neben Kreuz & Square weitere Tanzgruppen, ebenso in Halle, Berlin, Mittweida, Plauen, Erfurt, Wismar, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Potsdam, Görlitz, Jena, Ilmenau. 1984 waren in der DDR mindestens 16 Tanzgruppen aktiv. Mitmach-Folkstanz war zum „Zugpferd“ der ostdeutschen Folkszene geworden. Über die alte Bundesrepublik schrieb Florian Steinbiß im selben Jahr: „Tanz ist für die meisten der Deutsch-Folk-Gruppen gleichbedeutend mit Instrumentalmusik, denn wirklich 'zum Tanze' spielen nur wenig Ensembles“.

Schallplatte und internationales Festival

1983 gründete der Folkklub Leipzig die erste (und einzige) Volkstanzschule der DDR. Bis 2004 wurden dort nicht weniger als 2.300 Absolventinnen und Absolventen gezählt. 1985 erschien beim Label AMIGA eine Langspielplatte mit dem Titel „Folks' Tanz Haus“, live eingespielt von JAMS (Berlin) und Folkländers Bierfiedler (Leipzig). Zu Himmelfahrt 1986 fand in Leipzig, veranstaltet vom dortigen Folkklub, das erste internationale Tanzhausfest statt. Vier Tage lang spielten 16 Bands aus der ganzen DDR fürs tanzlustige junge Volk, 1988 waren es sogar 31! In der Leipziger Kongresshalle vergnügten sich damals an die 1.000 junge Leute auf einem der größten schwingenden Tanzböden Europas. Stargast 1986 war die Oysterband aus England, ein Jahr später Groupa aus Schweden, 1989 Blowzabella aus England.

Urkunden für die Absolventen der Volkstanzschule (Gestaltung: Gabi Lattke)

Der Osten tanzt - Bilder aus den 80ern
Ostfolk im Gespräch - Folge 7: Jetzt wird getanzt (mit Sigrid Römer)

Weitertanzen nach 1990

Das Leipziger Tanzhausfest hat das Ende der DDR 1990 überlebt, es ist immer noch international, wenngleich ein paar Nummern kleiner als zuvor. Verjüngt haben sich Publikum und Veranstalter-Team. 2020 musste das Festival wegen Corona ausfallen, 2021 gab es eine Online-Variante mit Videos und Avataren. Für 2023 versagte die Stadt Leipzig dem Festival die Förderung. Gelungene Ausweich-Variante war das „Phönix-Festival“ im Kulturbahnhof Leisnig. Wie es weitergeht? In diesem Jahr legt der Tanzhaus*Folk e. V. erstmal eine Denkpause ein.

Schon lange ist das Tanzhausfest in Leipzig nicht mehr allein auf weiter Strecke. Zu nennen wären hier Festivals in Ilmenau (Thüringen), Hohnstein (Sachsen), Halle (Sachsen-Anhalt), in Berlin, Frankfurt/Oder (Brandenburg) oder in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern). Von den reichlich 30 Festivals zwischen Ostsee und Erzgebirge, auf denen man 2024 Folk, Lied und Weltmusik erleben kann, bieten über die Hälfte die Möglichkeit, gemeinsam zu tanzen. Sechs davon tragen den Tanz sogar im Namen, wie etwa das MärzTanz Festival Chemnitz, das in diesem Jahr Premiere hatte. Festivalkalender 2024

Der Folktanz erobert Rudolstadt

„Tanz- & Folkfest“ nannte sich das Festival in Rudolstadt von 1991 bis 2015. Dessen Vorläufer, das DDR-Tanzfest, war ein reines Bühnentanz-Festival. 1983 fand dort erstmals eine kleine Mitmach-Tanzveranstaltung statt, organisiert von Ulrich Doberenz, damals Chef des Folkklubs Leipzig. 1985 wurde dann ein geselliger Tanzabend mit Folkbands und Tanzgruppen aus Berlin, Erfurt und Leipzig in den internationale Eröffnungsabend integriert. Seit dem Neustart des Rudolstädter Festivals 1991 und bis zum Jahrgang 2018 war Doberenz dessen Direktor.

Tanzlinde in Rudolstadt, hinter den Thüringer Bauernhäusern im Heinepark (Foto: Sammlung Sigrid Römer)

Seit 2016 kommt beim Rudolstädter Festival der Tanz nicht mehr im Namen vor. Aus dem Programm aber ist er nicht wegzudenken. Im Heinepark wird vor vielen Bühnen getanzt. Wem das nicht reicht, findet im Tanzzelt bis weit in die Nacht Gelegenheit, Tänze aus aller Welt kennenzulernen und auszuprobieren. 2022 feierte dort die Leipziger Tanzgruppe Kreuz & Square, wegen der Pandemie verspätet, ihren 40. Geburtstag, natürlich mit einem Tanz-Workshop. „Tanz des Jahres“ 2024 ist der Schottisch. Alle eingeladenen Bands sind aufgerufen, sofern vorhanden, eine regionale Variante vorzustellen. Auch Vivian Zeller aus Berlin und Ralf Gehler aus Schwerin werden beim Workshop im Alten Rathaus und beim Tanzabend im Löwensaal Schottisch-Varianten spielen, zeigen und erklären.

Folktanz in Kirchgemeindehaus, Sporthalle oder Hörsaal

Auch übers Jahr gibt es zwischen Ostsee und Erzgebirge viele Gelegenheiten zum gemeinsamen Folktanzen – ohne Wettbewerbsdruck, ohne Dresscode, ohne strenge Etikette, ausgelassen, zum eigenen Vergnügen. Ketten- und Kreistänze sorgen für die Erfahrung, als Gruppe zu tanzen, sich auf neue Partner und neue Rollen einzulassen. Paartänze geben Gelegenheit, einen Tanz individuell zu gestalten, schwungvoll oder innig, je nach Können und Wollen. Getanzt wurde zu DDR-Zeiten meist in kommunalen oder betrieblichen Klubhäusern. An ihre Stelle traten später soziokulturelle Zentren, Räume von Vereinen, umgenutzte ehemalige Fabrikhallen, Kirchgemeindehäuser, Sporthallen oder Hörsäle oder der Raum einer Physiotherapie wie beim Lausitzer Tanzhaus / Rejowański dom Łužyca in der Cottbusser Meldevilla.

Unvollständige Linkliste mit aktuellen Folktanz-Terminen

Volkstanz als Hochschulsport in in Berlin, Dresden, Halle, Jena und Leipzig

Andere Tänze – dieselbe Fröhlichkeit

In den 80er und 90er Jahren dominierte beim Mitmach-Volkstanz in Ostdeutschland das Vorbild des ungarischen Tanzhauses (wobei so gut wie nie ungarische Tänze getanzt wurden), schon früh spezialisierten sich einige Bands und Tanzgruppen, etwa auf englische, schwedische, israelische oder Balkantänze. Anfang dieses Jahrhunderts kam dann Bal Folk aus Frankreich und der Bretagne nach Deutschland, mitsamt Tanzrepertoire und Instrumentalbesetzung. Die Entdeckung und Digitalisierung der Dahlhoff-Sammlung mit über 800 Tanzmelodien aus dem 18. Jahrhundert im Jahre 2012 erschloss Folktanz-Musikern in Deutschland viele neue Quellen aus der eigenen Tradition. Heute mischen sich die verschiedenen Einflüsse, ohne dass es eine klare Abgrenzung gäbe. Und die fröhliche, rücksichtsvolle Atmosphäre eines Folktanzabends heute unterscheidet sich nicht von der, wie ich sie in den Anfangszeiten vor 45 Jahren erlebt habe.

Getanzt wird beim Folktanz zum Vergnügen der konkret miteinander Tanzenden, ohne gewollte Wirkung nach außen [...] Das Tanzen ist eingebunden in eine Festkultur, die gleichwertig auch Trinken und Essen, Zusammensitzen und persönliches Gespräch, Musik-Machen und -Hören umfasst.

Simon Wascher, Drehleierspieler und -dozent, Festivalveranstalter, Musikforscher (Wien)

Simon Wascher zum Unterschied zwischen Volkstanz und Folktanz

Folktanz im Ostberliner Haus der jungen Talente mit Folkländer, im "Auge des Orkans": Tanzmeisterin Sigrid Lembke (Foto: Thomas Neumann/neumgraf.de)

(Nichtrepräsentative) Umfrage zum Thema

Tanzen ist für mich...

… wie die Luft zum Atmen, das Leben selbst. - Vivien Zeller (Berlin), Folkmusikerin, Instrumental- und Tanzlehrerin
…die wunderbarste Art, als Musiker mit dem Publikum in Kontakt zu treten. - Wolfgang Meyering (Ostfriesland/Berlin), Folkmusiker, Journalist
... ein Gemeinschaftsereignis voller Lebensfreude, ein Begegnungsort von Menschen aller Generationen mit Begeisterung für Tanz und Musik. - Noemi Wiest (Berlin), Tanzmeisterin bei Spreefolk
…die Möglichkeit, historische Tempi und Betonungen zu erkennen und musikalisch umzusetzen. - Ralf Gehler (Schwerin), Folkmusiker, Musikethnologe
… Gemeinschaft, Kommunikation und Ästhetik und absolute Hingabe an den Moment und die Musik. - Lena Thalheim (Leipzig), Tanzmeisterin, Mitorganisatorin des Leipziger Tanzhausfestes und vieler Folktanzabende
...
eine Art, den eigenen Körper zu verstehen und zu genießen. - Rom Brook-Hart (Berlin), Balfolk-Unisport-Kursleiter
… ein Lebenselixir und lässt mich alle Schmerzen vergessen. - Christine Uhlmann (Dreiskau-Muckern), Tanzmeisterin, in den 80ern Mitorganisatorin des Leipziger Tanzhausfestes
… wie Wassertrinken in der Wüste. Tanzen lässt mich im Augenblick sein, im selben Moment ganz da sein. Wie ein Vögelchen, welches singt und nur dafür auf der Welt ist. - Martina Wenzlaff (Arnstadt), 2023 Mitorganisatorin des ersten Bal-Folk-Festivals in Arnstadt
… ein Bedürfnis, ein Lebensgefühl und die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen etwas Wunderbares zu erleben. - Sigrid Römer (Leipzig), Tanzpädagogin, 1980 in Leipzig Mitgründerin von Kreuz & Square, 1983 der DDR-Volkstanzschule, 1986 des internationalen Tanzhausfestes
Gemeinschaft, lachende Gesichter, Sport... Ich drehe mich im Kreis und alle schlechten Gedanken fallen von mir ab. - Gregor Kliem (Cottbus), Folkmusiker, Tanzmeister, Journalist

Ohne Tanz...

... wäre das Leben trocken und farblos. - Henry Drut (Dresden), Tanzmeister bei Gugelhupf
… gäbe es keine Tanzmusik. Das wäre traurig. Was sollten wir sonst spielen? - Ralf Gehler
wäre das Leben verkrampft und viel zu ernst. Wir brauchen viel mehr Tanzhäuser! - Gregor Kliem
… wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Vielleicht klingt es hochtrabend, doch ich tanzte durch mein Leben. - Sigrid Römer

Am liebsten tanze ich...

… zu guter Musik, die Interaktion mit der Musik ist für mich das Wichtigste, wenn das auch noch ein Partner oder eine Partnerin mitmacht, umso besser. - Vivien Zeller
… zusammen mit vielen anderen zu schöner Livemusik, egal aus welchem Land. - Martina Wenzlaff
... all dies: im Paar, gesellig, sportlich. - Henry Drut
… englische und schottische Volkstänze, weil die so schwungvoll und vielseitig sind, dass man sich dabei richtig ausarbeiten kann. Aber Schottisch und Walzer sind auch schön. - Christine Uhlmann
Strip The Willow, der ist sehr abwechslungsreich, Fröhlichen Kreis wegen der beschwingenden Energie und kurzzeitigen Partnerwechsel, Polonaise wegen der heiteren Unerwartbarkeit und Pata Pata (eine Art afrikanischen Line Dance), den ich vor zehn Jahren meinem Gospelchor beigebracht habe... - Kerstin Braun (Leipzig), Folkmusikerin
… Schottisch , weil meine Mutter diesen Tanz auch schon von ihrer Mutter gelernt hatte. Bei uns heißt das "Schottsken". - Wolfgang Meyering
Mazurka, weil sie die perfekte Verbindung aus Schwere und Leichtigkeit ist. - Lena Thalheim

Phönix-Festival 2023 am Kulturbahnhof Leisnig (Foto: Wolfgang Leyn)